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Hier geht die Post ab!

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil VIII

Die Morgenkreise sind jetzt vorbei. Das ist der einzige feste Termin, den die Schüler an der Freien Aktiven Schule Stuttgart (FAS) haben. Der Plan für den Tag steht und die Kids wissen über die neuesten Dinge an der Schule Bescheid. Jetzt sind sie frei. Können machen, worauf sie Lust haben.

Mich zieht es zu den Kleinen. Der Primaria. Altersstufenmäßig ist das die Grundschule. Ein Mädchen fällt mir zuerst ins Auge. Sie hat große grüne Augen. Lange lockige Haare.  Sie lächelt mich an. Eine große Zahnlücke kommt zum Vorschein.

„Wie heißt du?“ fragt sie mich neugierig. „Warte, ich kann das ja auf deinem Namensschild lesen: T-A-B-E-A. Tabea! Ich bin Ronja*!“ Sie lacht. Ich lache auch. „Was machst du da gerade?“ frage ich sie.Sie hat die bekannten Montessori-Platten in der Hand. Ich muss gestehen, dass ich sie noch nie wirklich in Anwendung gesehen habe.

Die Pyramiden erfordern nicht nur Zählen, sondern auch Geschick.

„Ich will eine Riesenpyramide bauen. Dazu muss ich ganz viele verschiedene
kleine Pyramiden formen, damit ich sie am Ende alle miteinander verbinden kann.“ Sie zählt mir auf, was für Platten man dafür alles braucht. Man fängt bei der Hunderterplatte an und hört bei der Einserplatte auf. „Dann ist man fertig!“

Ronja ist sieben. Ich finde, sie wirkt für ihr Alter schon ziemlich „gebildet“. Ich weiß nicht recht, wie ich das formulieren soll, aber sie wirkt vom Lernfortschritt bezogen auf ihr Lese- und Matheverständnis, mindestens soweit wie jemand von der Regelschule. „Manchmal, da setze ich mich mit Johannes zusammen. Wir machen dann oft Mathe, weil ich das nicht so wirklich mag. Und manchmal, da liest er was vor. Das macht er gaaaaanz toll!“ Johannes ist Ronjas absoluter Lieblingslernbegleiter. Am liebsten ist sie in seiner Nähe und macht was mit ihm. Und Johannes, der kann so erreichen, dass er sie an Dinge heranführt, die ihr sonst nicht so Spaß machen – die aber sinnvoll für später sind. Er ist als Lernbegleiter persönlicher Mentor von 11 Schülern. Da ist Zeit für so etwas.

Ich schaue mich im Raum um. Der ist echt groß. Die Schule ist früher mal ein Flüchtlingsheim gewesen. Die Stadt Stuttgart hat es dann der FAS überlassen. Das Gelände ist riesig. Das ehemalige Heim wurde komplett renoviert. Wände eingerissen, es wurde gestrichen, ein riesen Klettergerüst und eine Turnhalle gebaut. Jetzt fühlt es sich bei Weitem nicht mehr so an wie ein Flüchtlingsheim mit engen Gängen und kleinen Räumen. Es fühlt sich vielmehr so an wie ein kleines Dorf. Es gibt ganz verschiedene Häuser. In einem ist die Tertia zu Hause. Ein Haus weiter ist der Kindergarten. Es ist nämlich am leichtesten mit dem Schulkonzept klar zu kommen, wenn man es schon von Anfang an kennt…

Zwei Schülerinnen, schreiben im Sonnenraum das Datum von heute an die Tafel.

Ich bin im Primaria Haus. Im Sonnenzimmer. Er ist gelb gestrichen und mit warmen Farben dekoriert. Es gibt viele Fenster. Eine Couch steht in der Ecke. Und es gibt ganz verschiedene Nischen, in denen Platz zum Lernen ist. Rechts von mir steht ein Tisch mit vielen verschiedenen Kastanien. Daneben ist eine Nische mit einem Teppich, wo viel Montessori Material bereit liegt.

Das ist einer der Hauptunterschiede zwischen einer Freien Schule und einer Freien Aktiven Schule: An einer Freien Aktiven Schule sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen für die Lernumgebung verantwortlich. Sie haben die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder im Blick und bereiten für unterschiedliche Interessen verschiedenste Zugänge und Möglichkeiten vor. So bekommen die Kinder von sich aus Lust, sich mit allem möglichen zu beschäftigen und merken dabei gar nicht, dass sie nebenbei ganz viel lernen. Weil es ihnen Spaß macht. Ich schaue Ronja zu. Sie kennt diese Platten, mit denen sie die Pyramide baut, in und auswendig. Dadurch kann sie problemlos bis Hundert zählen. Rechnet zwischendurch aus, wie viele Platten sie noch braucht. Hat ein genaues Bild im Kopf, wie sie die Pyramiden am Ende genau zusammen formen muss.

Stolz zeigt Ronja ihren Postbotinnen-Ausweis in die Kamera.

Während ich mich weiter im Raum umschaue, entdecke ich eine Poststation. Auf dem Schild davor steht „geöffnet“. Ich schaue zu Ronja zurück. Die setzt gerade die letzte Perle auf die Pyramidenspitze. „Fertig!“ ruft sie und klatscht dabei in die Hände. Ich grinse und bemerke einen Schlüsselbund um ihren Hals. Er ist gelb. Am Karabinerhaken hängt ein Schild: das Zeichen der Post. „Sag mal Ronja, bist du Postbotin? Ich würde nämlich gerne einen Brief schreiben.“

„Au ja! Warte noch einen Moment. Ich muss erst alles vorbereiten.“ Ronja setzt sich hinter einen großen, gelb angemalten Pappkarton. Mit schwarzem Stift ist dort das Postzeichen drauf gemalt. Sie schließt das ausgeschnittene Fenster. Um es dann wieder zu öffnen: „Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?“ sagt sie mit ihrer süßesten Kinderstimme. „Ich würde gerne einen Briefschreiben.“ „Das macht dann insgesamt 70 Cent! Der Briefumschlag kostet 10 Cent. Zusammen wären das dann, warte…. 80 Cent“  Ich erstarre ein bisschen. Ich habe kein Geld dabei. Schaue mich schnell um, ob ich irgendwo Spielgeld sehe. Auch nicht. Ronja schaut mich erwartungsvoll an.

Teamwork schreibt einen Brief. Ronja verziert ihn danach mit Buntstiften.

Kann ich es echt bringen, ihr Luftgeld zu geben? Okay, du hast eh keine bessere Lösung, denke ich mir und überreiche ihr mit einem zögerlichen „Hier“ meine leere Hand. Ronja nimmt wie selbstverständlich die 0,80€ daraus. Wir Erwachsenen haben manchmal echt die Fantasie und Leichtigkeit verloren.

Briefkästen müssen regelmäßig gelehrt werden.
Fotos: Tabea Zorn

Briefmarken sind gekauft. Jetzt geht es noch darum, den Brief zu schreiben. Ronja diktiert. Ich schreibe an einen Klassenkameraden. „Hallo Flo! Wie geht es dir? Mir geht es sehr gut. Was machst du gerade? Ich bin im Sonnenraum bei der Post. Diktiert von Ronja. Geschrieben von Tabea.“ Ab in den Briefumschlag.

Stempel auf den Briefumschlag.  In den Briefkasten werfen. Der ist auch aus Pappe. Und dann dreht Ronja den Banner an der Tür auf „Geschlossen“ um. Leert den Briefkasten, winkt mir nochmal zu und läuft los. Flo kann irgendwo auf dem Gelände sein. Den muss sie erst einmal finden. 70 Cent zahlt man ja auch nicht umsonst.

23. August 2018by Tabea Zorn
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Von Inspirationen, Integralen und Idealismus

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil V

„Willkommen in den Niederlanden!“ Pauline empfängt mich an der Eingangstür. Ich schätze, sie ist Ende 30. Sie hat dunkelrote Haare und steht in einem grün-geblümten Kleid mit offenen Armen vor mir. Ich bin in Holland, nahe Arnheim. In einem kleinen 4.000 Einwohner Dorf, liegt eine der ca. 15 demokratischen Schulen Hollands. Seit zwei Jahren ist die soziokratische Schule Vo de Vallei ein fester Bestandteil des Dorfes. Pauline hat die Schule mit gegründet. Heute ist sie Lernbegleiterin und viel im Hintergrund der alltäglichen Schulorganisation aktiv.

Pauline hat mir extra Suppe gekocht. Nach so einer langen Reise hätte man bestimmt einen riesen Hunger. Ich muss lächeln. Für mich spiegelt diese Suppe gut wieder, wie ich demokratische Schulen in diesen Wochen erlebe: als ein Zuhause. Ich hätte nicht gedacht, dass es so wohnlich in Schulen sein kann. Jede Schule ist bunt, warm eingerichtet, es gibt viele Sofas, eine Wohnküche… und unheimlich nette Menschen, die einem ihre Dusche zur Verfügung stellen, einen Tee kochen oder eine Isomatte leihen.

Konzentriert arbeitet jedes der Mädchen für sich allein.

Während ich meine Suppe schlürfe, fällt mir eine Sache auf: Es ist ruhig. An allen anderen Schulen ging vormittags um diese Zeit die Post ab. Die Kinder hatten viel Energie und sind überall umhergesprungen. Es war nicht selten, dass mein Kopf gebrummt hat. Hier merkt man das Alter der SchülerInnen – ich befinde mich in einer weiterführenden Schule. Es herrscht Lernatmosphäre. An einem großen Tisch sitzen vier Mädchen beieinander. Jede hat ihre Headphones in den Ohren. Jede macht ihre eigenen Aufgaben. Ein Mädchen liest Zeitung. Ein anderes rechnet mit Integralen. Ihre beiden Sitznachbarinnen lernen für ihre Englisch Abschlussprüfung.

Ein Mädchen malt im Kreativraum. Sie möchte später Kunst studieren.

Pauline führt mich herum. Sie läuft gerade und entschlossen. Ihre Schuhe mit Absatz klappern über den Boden. Doch etwas in ihrem Auftreten ist sehr liebevoll und aufmerksam. Sie hat überall ein Auge. Ihre Augen strahlen Wärme aus, während sie mir die Kinder in den Räumen vorstellt. Ein Junge spielt Gitarre, eine Gruppe Schüler rappt für ihren Youtube Channel, eine andere Gruppe baut sich gerade eine eigene Spielfigur für ihr Lieblingsbrettspiel. Ein Mädchen tanzt im Bewegungsraum. Alles ist zu finden.

In Biologieraum hat ein Schüler hat seine Schuhe auf dem Tisch. Pauline geht auf ihn zu, um ihn zurecht zu weisen. Seine Antwort: „Dazu gibt es keine Regel.“ Pauline lacht. Ihr Schüler hat Recht. Es gibt nur die Regel, dass die Schüler ihre Schuhe nicht auf die Stühle legen dürfen. Über die Tische wurde nichts beschlossen. Pauline kann da nichts machen. Das ist Demokratie. Die Schuhe bleiben weiter auf dem Tisch. Sie nimmt es mit Humor und mich in den nächsten Raum.

Wenn Pauline mich in einen Raum führt, dann denke ich immer, dass die Schule dort zu Ende ist. Es gibt aber immer eine weitere Tür, die in einen neuen Raum führt. Räume wie den Darkroom, in dem Fotografien entwickelt werden, das Atelier, in dem genäht, gewerkelt, gemalt werden kann oder dem Technikraum, in dem momentan der Original Synthesizer einer bekannten niederländischen Band repariert wird.

Pauline schreibt an die Tafel, was es heute alles für Angebote und Besonderheiten für die Schüler gibt.

Am Ende der Führung stoppen wir in der Küche. 38 SchülerInnen gehen auf diese Schule. Die Quadratmeterzahl ist ziemlich hoch dafür.  Wie finanzieren sie das nur? In Holland bekommen alternative Schulen keinen Cent vom Staat. „Diese Schule braucht Idealismus.“ Die LehrerInnen verzichten auf einen sehr großen Teil des Lohns. „Toll wäre es, wenn wir irgendwann etwa das Gehalt eines Lehrers an einer Regelschule zahlen können.“ Ein Satz von Pauline bleibt mir im Gedächtnis: „Wenn wir hier für Geld arbeiten würden, dann wäre die Schule vielleicht nicht so großartig.“

An Schulen wie dieser arbeiten Menschen für ihr Herz.  Menschen, die von diesem Konzeptüberzeugt sind. Für die jedes Kind wichtig ist. Deren Engagement in einer tiefen Leidenschaft verwurzelt ist. Menschen, die ihren Sinn im Leben gefunden haben. Menschen, die aber nicht Vollzeit hier arbeiten können. Pauline verdient sich vor allem mit Schauspiel ihr Geld – aber nicht aus Pflicht. Sie genießt es, nicht nur aus der Schule Inspiration zu ziehen. Das Theater mit Schauspiel bereichert ihr Leben mindestens genauso wie die Freie Schule.

Pauline geht in ihrem Job auf. Sie hat stets ein aufmerksames Auge und Ohr – wie auch hier bei der Schulversammlung.

An meiner Regelschule gab es LehrerInnen, bei denen ich gedacht habe, dass ihnen ihr Beruf keinen Spaß macht. So etwas gibt es hier nicht – „Die halten es hier nicht lange durch.“ sagt Pauline. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal eine Schule gründen würde. „Ich konnte aber nicht anders, weil ich meine Kinder nicht auf eine normale Regelschule schicken wollte.“ Eine andere Freie Schule in der Umgebung gab es nicht.

Ich merke, wie diese Reise nicht nur mein Wissen über Freie Schulen erweitert. Diese Reise ist viel mehr. Sie bewegt etwas persönlich in mir. Es sind Menschen wie Pauline, die diese Reise zu etwas ganz Besonderem machen. Etwas Unvergesslichem.

22. August 2018by Tabea Zorn
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1. Die perfekte Schule?

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil VI

eine persönliche, kritische Auseinandersetzung mit Freien Demokratischen Schulen

„Du wirst ja echt zur Werbefachfrau für Freie Demokratische Schulen.“ schreibt mir mein Vater zu meinen letzten Artikel. Seine nächste Frage: „Gibt es nichts Kritisches?“

Doch. Gibt es.

Die zweite Hälfte der Reise hat begonnen. Vier Schulen sind besucht. Vier Schulen kommen noch. Eine Gelegenheit, um den kritischen Gedanken mal freien Lauf zu lassen. Kritische Gedanken, die ich nicht empirisch belegen kann, sondern die aus meinem Bauch kommen.

Ich möchte vor allem auf drei Punkte eingehen. Dabei will ich beide Seiten beschreiben. Damit Du Dir Deine eigene Meinung bilden kannst.

1. Fremdspachen lernen ohne Commitment? Unmöglich.

Beobachtung:Fremdsprachen stehen wie in jeder Schule auch an Freien Schulen auf dem Programm. Es gibt Angebote, zu denen man hinkommen kann. Da heißt es z. B. Englisch für Fortgeschrittene oder Japanisch für Anfänger. Oft ist es so, dass es „Sprach-Spezialisten-Lernbegleiter“ gibt. Zu ihnen können die Schüler immer kommen und einen Termin zum Lernen ausmachen. Oft bieten sie auch zu bestimmten Zeiten ein Lernangebot an. Jede Sprache soll möglich sein, zu lernen. Wenn ein Schüler Tschechisch lernen will, dann wird versucht, einen Tschechisch-Lernbegleiter zu finden. Und so weiter.

Konzentriert stetig eine Sprache lernen – das wäre ideal.

Kontra:Ich erlebe nur sehr wenige Schüler, die sich wirklich Woche für Woche hinsetzen und eine Sprache lernen.Sprache lernen ist schwer. Umso schwerer, wenn man das nicht regelmäßig tut. Bei mir funktionierte Vokabellernen, wenn ich einen Test schreiben musste. Wenn ich Leistungsdruck hatte. Wie kann ein Kind in einer Sprache besser werden, wenn es nicht regelmäßig Vokabeln lernt? Wie kann ein Schüler die Tiefen der Grammatik nicht vergessen, wenn er sich nur einmal im Monat mit ihr beschäftigt? Wie kann ein Jugendlicher die Aussprache lernen, wenn er selbstständig mit einem Buch lernt, aber nie selber spricht?

Und außerdem ist das Gehirn besonders in jungen Jahren sehr aufnahmefähig für Sprachen. Wird diese Aufnahmefähigkeit vielleicht vergeudet, wenn das Kind erst im späten Alter aus sich heraus dieses Interesse gewinnt?

Pro:Kinder lernen durch ihre intrinsische Motivation.Wenn sie die Notwendigkeit begreifen, etwas zu lernen, dann werden sie das tun. Wieviele Leute können denn nach ihrem Abitur wirklich Französisch? Und wie sieht dieser Französischkenntnisstand 10 Jahre danach aus? Denken wir mal selber an unsere eigene Schulzeit. Wie oft war es der Fall, dass man im Unterricht sitzt, aber eigentlich viel lieber was anderes tun würde. Demnach ist unsere Aufmerksamkeit und unser Wille zu lernen nicht sonderlich hoch. Ist es da nicht dann effizienter, ab und zu eine Stunde zu haben, in der man sich intensiv mit der Sprache auseinander setzt? Heißt Französisch Unterricht haben auch wirklich lernen?

Ein Französisch-Lernbegleiter erzählt mir: „Mir ist es wichtig, dass die Schüler eine positive Assoziation mit dem Fach beibehalten. Wenn sie später als Erwachsene Lust haben Französisch zu lernen, dann sollen sie das tun. Ich glaube, wenn wir die Schüler zum Lernen zwingen, dann entsteht diese Lust, diese intrinsische Motivation nicht nochmal neu.“ Was ist also nachhaltig?

2. Grenzenlose Mediennutzung in der Schule!?

Beobachtung:An mehreren Schulen, die wir besucht haben, gab es keine beschränkte Mediennutzung (an einigen Schulen aber schon!). Folge: Viele Kinder, insbesondere ab ca. 10-12 Jahren haben einige Stunden des Schultags mit ihrem Handy verbracht. Schauten Youtube Videos, waren auf Instagram, tobten sich auf Whatsapp aus. Mir kam es so vor, als ob nur Ausnahmen etwas „Vernünftiges“ am Handy machten.

Handyspielen – eines der Dinge, womit der Schüler morgens in der Schule beginnt.

Kritik:In der Schule soll gelernt werden. Was lernen Kinder, wenn sie Bibis-Beauty-Palace anschauen? Dass sie ihren neuen mega fluffig super süß riechenden Beauty-Bade-Schaum kaufen sollen? Dass sie ihr den pinken Pfannkuchen mit Schweinekopf nachbacken sollen? Gehen Kinder in dieser Fantasiewelt nicht verloren? Verlieren sie dort nicht den Draht zum wahren Leben? Was lernen Kinder, wenn sie sich auf sozialen Medien den ersten Platz in dem Kino der Highlights der Anderen sichern?

Die Lebenszeit, die ins Smartphone gesteckt wird, könnte doch so gut auch an anderen Stellen genutzt werden. Zum Nähen, zum Spielen, zum Fahrradfahren. Kann es nicht sein, dass Kinder später diese „vergeudete Lebenszeit“ bereuen? Wenn sie zum Beispiel nicht wissen, was sie später mal werden wollen, weil sie kaum andere Talente außer Zocken ausgelebt haben?

Handys haben einen suchtmachenden Charakter. Das ist ein Fakt. 3 Stunden verbringen wir am Tag durchschnittlich mit ihnen.Handys haben einen Sog, vor dem sich kaum einer schützen kann. Brauchen wir da nicht auch Regulationen von außen, wenn der Mensch doch gar nicht so frei und autonom ist, wie er sich fühlt?

Pro:Was ist gesund? Meine Eltern waren in meiner Kindheit sehr streng mit Süßigkeiten. Nach meinem Vater hätten wir kaum einen Gramm Zucker im Haus haben sollen (was ja eigentlich sehr vernünftig ist). Die Folge war nur, dass jedes Mal, wenn ich bei Freunden zu Besuch war, meine erste Frage war: „Habt ihr was Süßes?“. Dort habe ich mir dann den Mund mit Gummibärchen, Maoam und Fanta vollgestopft. Genau das gleiche wäre wohl passiert, hätten mir meine Eltern damals Handyverbot erteilt. (Ich muss aber dazu sagen, dass ich letztes Jahr ein zuckerfreies Jahr gemacht habe. Hätte ich das auch ohne diese damalige Grenze, Regulation, aber auch Inspiration gemacht?)

An der DSX in Berlin gibt es Computer, an denen die Kinder spielen dürfen.

Was heißt überhaupt “etwas vernünftiges lernen?” Als Kind und Jugendlicher suche ich doch ständig nach Vorbildern und Beispielen. Nicht immer finde ich in meinem direkten Umfeld Leute, die ähnliche Interessen, Probleme oder Themen beschäftigen. Online gibt es andere Möglichkeiten. Ist es nicht auch Lernen, wenn ich mir ein Video anschaue, indem verschiedene Youtuber über ihr erstes Mal sprechen oder indem eine Amerikanische Youtuberin auf Englisch über den neuesten Glitzer-Nagellack redet oder indem jemand in einem Land herumreist und vlogt? Regt das Backen von pinken Pfannkuchen mit Schweinekopf nicht auch kreative Gedanken an?

In Holland lerne ich ein Mädchen kennen, das sich das Instagram-Profil einer Fotografin anschaut und Notizen zum Fotografieren in ein Heft kritzelt. Ein anderer Junge schaut englische „Let’s Play-Videos“ und sagt, dass er so gelernt hat, fließend Englisch zu sprechen.

Und: an einigen Schulen, haben die Schüler sich selber das Handy verboten. In einer Woche hatten sie das mal ausprobiert — so ganz ohne Begrenzung. Danach waren sie so genervt, dass sie in der nächsten Woche das absolute Verbot wollten. Das war dann auch nicht ideal, sodass bei der nächsten Schulversammlung eine Erlaubnis von einer Stunde Handynutzung erteilt wurde. Bis der nächste Antrag auf Änderung kam. Es ist doch großartig, wenn sich die Kinder selber beobachten und beurteilen können. Man sollte die Fähigkeit der Kinder zur Selbstregulation und Selbstreflexion nicht unterschätzen.

Überhaupt – wenn ich zwei Wochen lang auf der Couch am Handy gehangen habe, habe ich dann nicht selber irgendwann Lust, mal einen blauen Himmel zu sehen?

3. Freunde finden – unter drei Gleichaltrigen?

Beobachtung:Viele Freie Demokratische Schulen haben nicht viele Schüler. Wir haben nur zwei Schulen erlebt, die über 100 Schüler hatte. Die kleinste hatte 24. Im Schnitt waren es ca. 50 Schüler – von der 1. bis zur 10. Klasse wohlgemerkt.

Kritik:Wir alle wissen, wie wichtig das soziale Umfeld, unsere Peergroup ist. Wieviel es uns lehren, beeinflussen oder inspirieren kann. Erst kurz vor der Oberstufe hat sich mein Freundeskreis auf andere Leute als Mitschüler vergrößert. Der Freundeskreis in der Schule ist also essentiell. An meiner Regelschule hatte ich die Auswahl von Freunden unter 150 Schülern in meiner Jahrgangsstufe. In Extremfällen kann es an Freien Schulen sein, dass ich nur einen Mitschüler in genau meinem Alter habe.Wie wahrscheinlich ist es also, dass ich mit diesem einen Mitschüler gut klar komme? Dass er in seiner Entwicklung an dem gleichen Punkt steht wie ich? Dass ihn die gleichen Themen interessieren wie mich. Das ist noch mehr ein Problem, wenn Schulen gerade neu im Aufbau sind – wenn ältere Schüler fehlen.

Freundschaften gehen an Freien Schulen oft über eine Altersstufen hinaus

Pro:Die Schüler profitieren oft auf ganz anderen Ebenen.Sie lernen, eine Umsicht auf Menschen ganz verschiedenen Alters zu entwickeln. So profitieren die Jüngeren oft davon, wenn sie sehen, dass jemand Älteres schon lesen und schreiben kann. Das wollen sie dann auch lernen. Die Älteren lernen, auf die Jüngeren Rücksicht zu nehmen und Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Und im Spiel – da vermischen sich die Grenzen des Alters sowieso. Außerdem lernt man Menschen kennen, mit denen man vorher vielleicht nicht so viel zu tun gehabt hätte. Man lernt sie und ihre Sicht auf die Welt intensiv kennen und kann so oftmals seinen eigenen Horizont erweitern.

Es ist ein Balance-Akt — diese Schulgröße. Eine Diskussion zwischen dem Erhalten der persönlichen Beziehung zwischen allen Schülern sowie Lehrern und de gleichzeitigen Gewährleistung einer Freundesgruppe.

Es gibt noch andere Kritikpunkte, die man erwähnen könnte. Die Fragen: „Sind diese Schulen etwas für jedes Kind?“ oder „Wird meinem Kind hier auch wirklich die ganze Bandbreite geboten? Gibt es nicht die Chance, dass eine Leidenschaft für z. B. Biologie verborgen bleibt?“ oder „Bereitet die Schule auf das wahre Leben vor mit all dem Leistungsdruck?“. Doch je mehr ich versuche, diese Fragen zu beantworten, frage ich mich: Erfüllt die Regelschule diese Anforrderungen überhaupt?Inwiefern ist die Regelschule geeignet für jeden? Inwiefern bietet die Regelschule die Bandbreite an „Fächern“? Inwiefern bereitet die Regelschule auf das „wahre“ Leben vor?

Während ich mir jetzt bei Kerzenlicht und Sonnenuntergang die Zusammenstellung meiner Punkt anschaue, merke ich, dass ich eine Argumentationsstruktur gewählt habe, die zugunsten der Freien Schulen liegt. Man könnte meinen, dass ich jeden Kritikpunkt mit einem Pro-Argument widerlegen möchte. — Vielleicht bin ich ja echt Werbefachfrau. Vielleicht bin ich von diesen persönlichen Erfahrungen einfach geblendet. Vielleicht bin ich aber auch eine Autorin, die das Konzept von Freien Schulen tief beeindruckt hat. Vielleicht schreibt man so, wenn man von etwas überzeugt wurde.

14. August 2018by Tabea Zorn
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Jede Stimme zählt

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil IV

Ich bin fertig. Die letzten Wochen schlauchen ganz schön. Jeden Tag neue Menschen, neue Eindrücke, neues Wissen. Das ist anstrengend. Ich beschäftige mich 24/7 mit dem Thema Schule. Ich schlafe in den Schulen. Ich sehe nur noch Schule. Mein Leben ist nur noch Schule. 

Die Reise fühlt sich an, als würde ich Zelten. Jeden Tag baue ich ein neues Zelt auf, um es dann  wieder abzureißen. Jeden Tag breite ich meinen Schlafsack aus, um ihn dann wieder einzupacken. Jeden Tag brauche ich all meine Energie, um Abends müde auf die Isomatte zu fallen. 

Das mit der Anstrengung merke ich besonders an Tagen, an denen keine Schule ist — an denen kein Adrenalin in den Adern steckt. Ich bin müde, obwohl ich lange geschlafen habe. Mein Kopf ist nicht so wach, wie er sein sollte. 

Ich bin an der nächsten Schule in Holland – LOS Deurne. Mittwochs ist hier immer schulfrei. Zwischenpause. Das tut mal gut. Mitten in der Woche einen Tag frei: So können sich die Kinder ausruhen. Und Vor allem die Erwachsenen. Und ich mich heute auch. 

Eine Lernbegleiterin erklärt ihre Sicht während der soziokratischen Schulversammlung.

In Deurne, nahe Eindhoven, haben vor knapp anderthalb Jahren fünf Mütter eine soziokratische Schule gegründet. Soziokratie ist eine Form von Demokratie. Hier zählt nicht, was die Mehrheit sagt. Hier zählt jede Stimme. Jedem soll zugehört werden. Jeder soll seine Stimme äußern – egal, wie beliebt oder bekannt. Es gibt keine Abstimmung, sondern eine Suche nach Konsens. Man sucht solange nach Kompromissen bis jeder damit leben kann. 

Das alte Bauernhause von außen

Die Schule befindet sich in einem alten Bauernhaus. Hier war vorher mal ein Restaurant und eine Bar, die insolvent gegangen ist. Die Wände sind durch dunkle Holzbalken gestützt. Alles ist in warmen, dunklen Holztönen gestaltet. Es riecht nach Heimat, Vergangenheit und Geheimnis. Jedenfalls nicht wie eine Schule. Für die fünf Mutter war das perfekt. Per Zufall sind sie an das Haus gekommen. Sie hatten nach einer Location gesucht, die nicht nach Schulalltag aussieht. Ein Ort für Herz und Seele soll ihre Schule sein. Deshalb nennen sie ihre Schule auch nicht Schule — sondern natürliche Lernumgebung. Übersetzt heißt LOS: Lernen, Entdecken, Spielen.

An der ehemaligen Bar werden jetzt eigenständig Chemie-Experimente gemacht.

Es ist Donnerstag. Eine Vierjährige kommt zu ihrem ersten von zwei Probetagen. Sie schaut sich die Schule an, um zu sehen, ob die Schule für sie in Frage kommt. Ob sie sich vorstellen kann, hierhin zu gehen. Die Eltern würden extra für sie und ihre Schwester nach Deurne ziehen. Damit ihre Kinder in dieser Lernumgebung lernen und leben können.

Ich beobachte sie. Linda ist klein und wie ich finde, sehr süß, schüchtern. Sie ist still. Schaut den Anderen leise zu. Macht mit. Aber ja nicht zu auffällig.

Linda schneidet mutig die Pilze für die Suppe

Heute wird in der Schule Champingnon-Suppe gekocht. Linda hat die Aufgabe, die Champignons klein zu schneiden. Sie bekommt ein Messer in die Hand gedrückt. Genau gezeigt, wie die Champignons am besten geschnitten werden. Und dann schneidet sie. Ruhig. Langsam. Vorsichtig. Ordentlich. Geduldig. Mit einem Messer, bei dem die meisten Mütter aufschreien würden, wenn sie es in der Hand ihres kleinen Kindes sähen. Die Lernbegleiterin steht daneben. Sie entfernt Kirschkerne aus den Kirschen. Vertraut Linda voll und ganz. Zwinkert mir zu.

Linda hat zuende geschnitten. Jetzt turnt sie mit den Anderen auf dem Matratzenlager. Rennt ihnen hinterher. Klettert hoch. Lacht. Als sie sieht, wie ein älteres Mädchen am Klavier spielt, setzt sie sich daneben und versucht das andere Keyboard daneben zu spielen. Sie drückt einzelne Tasten. Beobachtet aufmerksam, wie das Mädchen sie bewegt. Lauscht der Melodie. Als das Mädchen aufhört, hört auch sie auf zu spielen. Weiter geht’s!

Der rosane Prinzessinnenrock einer Schülerin hat Linda schwer beeindruckt.

Es ist Freitag. Ich muss schmunzeln. Linda trägt heute einen pinken Prinzessinenrock. Den hatte gestern ein anderes Mädchen in ihrem Alter auch getragen. „Heute morgen hat sie sich ganz selbstständig angezogen“ erzählt mir ihre Mutter beim Abholen. Der Prinzessinenrock hat ihr wohl so imponiert, dass sie ihn direkt auch mal anziehen wollte. 

Ich denke an eine Psychologie-Vorlesung zurück. Lernen am Modell von Bandura. „Lernen neuer Verhaltensweisen anhand der Beobachtung eines Modells dessen Verhalten sofort oder später nachgeahmt wird; Tritt oft in Situationen auf, in denen  kein Lernen zu erwarten ist.“ Ein perfekteres Beispiel aus dem Leben könnte ich wohl kaum finden. Genau das ist es doch, wofür Freie Schulen stehen. Hier denkt man von außen oft nicht, dass gelernt wird. In Wirklichkeit ist der Lerninhalt aber viel größer und intensiver als gedacht.

Für solche Erlebnisse halte ich gerne noch länger durch. Dafür baue ich gerne Zelte auf und ab. Dafür gebe ich gerne tagtäglich alles. Sodass ich noch mehr Schulen kennenlerne. Noch mehr Eindrücke sammle. Und noch mehr und mehr er-fahre.

12. Juli 2018by Tabea Zorn
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Florian und der Neutronenstern

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil III

Berlin-Schulzendorf. Demokratische Schule X. Während ich das erste Mal durch die Schule laufe, fällt mir eine Sache direkt auf: ständig sehe ich Jugendliche am Handy. Sie sitzen auf der Couch. Die Chipstüte daneben stammt aus dem Edeka nebenan. Hände fettig. Rücken krumm. Augen glasig. Finger wild umher tippend.

Ein Schüler sitzt am Handy. Das ist das erste, was er aus seiner Schultasche holt.

Im Lernraum ist nichts los. Ich gehe einen Raum weiter: Ruheraum. Auch niemand. Ich will die Tür fast schon wieder schließen, da sehe ich einen kleinen Jungen in dem großen Kissen auf dem Boden liegen. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gesehen habe.

Er hat es sich gemütlich gemacht. Eingekuschelt. Nur sein Kopf schaut aus der Decke heraus. In der Hand? Sein Smartphone.

Er schaut zu mir auf. Ich habe nun den freien Blick auf sein Handy. Ich merke, wie ich stocke. Auf seinem Smartphone-Bildschirm ist kein Julien Bäm oder Farid Bang.

Das ist SimplePhysics. Eine Lernplattform auf Youtube, die ich noch gut aus meiner Abizeit kenne. Sie hat mir die ein oder andere Erleuchtung gegeben. Und da sitzt er vor mir. Florian. 10 Jahre. Er schaut sich Stoff an, für den ich mich mit 18 noch nicht mal begeistern konnte. Astrophysik. Der Neutronenstern. 

Florian geht seit November 2017 auf die DSX  (Demokratische Schule X). Vorher war er auf einer Regelschule. Dort kam er nicht klar. Hatte schlechte Noten. Keine Motivation. Keinen Bock. Bei seiner Klavierlehrerin hat er sich Woche für Woche darüber beschwert, wie ätzend Schule ist. „Seit der ersten Klasse war ich jeden Tag genervt von der Schule“, erzählt er. Seine Klavierlehrerin hat ihm dann von der DSX erzählt. 

Mit der DSX-Homepage auf dem Handy ist er begeistert zu seinen Eltern gegangen. Die waren zuerst ziemlich skeptisch. Haben sich aber auf Florians Wunsch eingelassen. Brauchten etwas Eingewöhnungszeit. Florian lernt nämlich anders. Er büffelt nicht über Bücher. Er büffelt über seinem Handy. Hört sich Vorträge an, schaut Erklärvideos, liest Artikel. „Ab und zu schaue ich aber auch mal ein Gaming Video.“ sagt Florian mit einem Schmunzeln. Eine Pause zwischendrin kann man sich ja mal gönnen.

Das Internet ist seine Lernplattform. Hier kann er selber entscheiden, was genau er schauen möchte. Hier sagt ihm niemand, was er sich anschauen soll. Hier findet er auf jede Frage eine Antwort.

Ob Wasserball oder Fußball, die Kids toben sich draußen aus.

Der Ruheraum ist sein Klassenzimmer. Hier ist es dunkel. Es gibt nur ein kleines Fenster. Draußen ist es laut. Dort rennen die Kinder mit Wasserpistolen rum. Daneben kann sich Florian nicht konzentrieren. Außerdem gibt es hier alles, was er braucht: Strom und WLAN.

Für Forian ist die DSX eine Schule, in der man nur das lernt, was einen interessiert. Und ihn interessiert eigentlich viel. Vor allem aber Geschichte und Physik — da gibt es Mehlstaubexplosionen statt Exponentialfunktionen. Er geht aber auch ins Englisch-Angebot. Florian weiß, dass er später seinen mittleren Schulabschluss machen will. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor. „In der Regelschule wurde ich immer angemotzt, wenn ich am nächsten Tag die gelernte Vokabel falsch geschrieben habe.“ erzählt er. „ Wenn ich hier zurück hänge, dann frage ich einfach, ob wir nochmal einen Schritt zurück gehen können. So oft, dass ich wieder gut mitkomme.“ Englisch — einst sein unliebstes Fach — hätte ihm sogar angefangen, Spaß zu machen.

Einen Vorteil habe er aber, weil er vorher auf der Regelschule war. Er kann schon Lesen und Schreiben. „Wenn ich die Grundlagen der Regelschule nicht gehabt hätte, würde ich mir wohl mehr rosa Elefanten anschauen.“ erzählt Florian. Wie es die anderen Kinder vielleicht tun? Ich hebe mir diesen Gedanken für später auf. 

Der Junge, der vorhin noch am Handy saß, hat sich mit einem Lernbegleiter zu einem Lerntreffen verabredet. Heute steht der Aufbau der DNA auf dem Programm. (Fotos: Tabea Zorn)

Florians Schwester ist etwas älter als er. Sie geht schon in die 10. Klasse der Regelschule. Sie hat den Wechsel auf die DSX nicht mehr gewagt. Er spürt im Alltag, dass sie beide auf unterschiedliche Schulen gehen. Seine Schwester kommt oft schlecht gelaunt nach Hause. Sitzt am Schreibtisch. Hat Lerndruck. Muss immer irgendetwas tun.

Die einzige Sache, die Florian an seiner Schule stört, ist die lange Fahrtzeit. Er kommt aus Spandau und muss jeden Morgen eine Stunde zur Schule fahren. Für die DSX macht er das aber gerne. „Sonst gefällt mir alles. Obwohl — es könnte eigentlich mehr als einmal in der Woche das Geschichtsangebot geben. In Geschichte lerne ich nämlich super schnell!“

Florian macht für heute Schluss. Den Ruheraum hat er heute keinmal verlassen. Jetzt geht es nach Hause. Er hat sich einen Heliumtank bestellt. Der müsste inzwischen angekommen sein. Gleich mal ausprobieren. 

Seine Schwester macht dann wohl Hausaufgaben.

 

 

*Florian möchte nicht fotografiert werden. Deshalb ist gibt es kein Foto von ihm in diesem Beitrag.

26. Juni 2018by Tabea Zorn
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Super Beauty – Super Bildung!

   Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil II

Eine Gruppe junger Kinder läuft lachend auf einer Straße. Die Hauswände sind mit Graffiti beschmiert. Es ist zwölf Uhr mittags – in Hamburg Wilhelmsburg herrscht eine angenehme Stimmung. Es sind noch nicht so viele Menschen unterwegs. Die meisten sind noch auf der Arbeit. Da ist ein Lachen in der Ferne, eine Frau kauft sich gerade einen Döner und ein Bus hält an einer Haltestelle. Mein Blick schweift zurück zu der Gruppe von Kindern, die im Grundschulalter sind. Ein Mädchen mit dunkler Haut und langen, lockigen Haaren hält ein Schild in der Hand. Sie sieht aus, als würde sie gleich auf eine Demonstration gehen. Ein anderes Mädchen klebt bunt bemalte Zettel mit Tesafilm an einen Lampenpfahl. Ein Junge ruft laut: „Super Beauty — eine Session für nur 10 Cent!!!“

Eine Kundin begutachtet kritisch das Schminkergebnis.

Maditha, Yale und Tom* wollen ihren eigenen Beautysalon eröffnen. Dazu haben sie ihre Schminktasche mit in die Schule gebracht. Den Lippenstift von Mama inklusive. An der FLeKS (Freies Lernen – Kollektiv und Selbstbestimmt) ist das möglich. Die drei Kids haben die Vision eines Treffpunktes für Nachbarschaftshilfe. Das haben sie im Nachbarhaus so gesehen und wollen das nun auch. 

Wilhelmsburg ist ein interkulturelles Viertel in Hamburg Mitte. Hip und bunt. Mit Problemen belastet. Es gibt deutlich mehr Sozialleistungsempfänger und Arbeitslose als im Hamburger Durchschnitt. Mittendrin liegt die FLeKS. Das ist ungewöhnlich für Freie Schulen, die sonst auf dem Land sind – in einem riesigen Haus mit riesigen Garten. Freie Schulen, die eine „heile Welt“ irgendwo im Nirgendwo sind. Freie Schulen, deren Elternschaft von der weißen, gebildeten, deutschen Bio-Mittelschicht geprägt ist. 

Die FLeKS will genau das verhindern – das Entstehen einer homogenen Masse. Die Schule soll die Bevölkerung des Stadtteils abbilden. Mit all den Herausforderungen, die dies mit sich bringt: Wie erreicht man Familien aus einem anderen sozialen oder kulturellen Kontext? Wie erreicht man Eltern, deren Bild von Freien Schulen mit Vorurteilen behaftet ist? Wie erreicht man Menschen, die bereits im Regelschulsystem nicht durchblicken? 

Die FLeKs versucht ihre eigenen Wege zu finden. Ihren Flyer und ihre Homepage haben sie in fünf Sprachen übersetzt. „Wir legen Wert darauf, an besonders alltäglichen Orten dafür zu werben – zum Beispiel in Supermärkten.“ erzählt mir Eliza, eine junge, selbstbewusste Frau. Wir haben uns zu einem Gespräch verabredet. Sie ist eine der Lernbegleiter*innen und Mitbegründer*innen der Schule. Für sie ist die Gründung der Schule auch ein politisches Projekt. Eine Stimme in der Welt für eine andere Bildung und Lebensweise. Eine Stimme aus 24 Schülern und fünf Lernbegleitern.

Maditha, Yale und Tom gesellen sich zu uns. Wir sitzen in der Leseecke, die mit Kissen, Decken und Sofas ultra gemütlich ist. Yale erzählt, dass sie heute zum ersten Mal ein Kopftuch trägt. Maditha spricht darüber, wie sie momentan Klavierspielen lernt. Tom beschäftigt, dass er seine Oma morgen im Altenheim besuchen wird.

Eliza und ich während unseres Interviews.

„Diese Schule kann ein Beispiel für die Gesellschaft sein. Wir leben hier alle gut und friedlich zusammen. Trotz diesem Mix aus Ländern, Religionen, Werten und Ansichten.“ fügt Eliza stolz hinzu. Sie hat selber einen Migrationshintergrund — nicht um eine Quote zu erfüllen, sondern um das Beste für die Schule zu erreichen.

Diesem Willen sind allerdings auch Grenzen gesetzt. Freie Schulen kosten Geld. Vom Staat bekommen sie in Hamburg ca. 70% von dem, was eine Regelschule erhält. Allerdings haben Freie Schulen doppelt bis dreifach so viel Lehrpersonal. Wie soll man das finanzieren, wenn manche Eltern kaum Schulgeld zahlen können? Das ist eine der Herausforderungen der nächsten Jahre für die FLeKS. Sie ist in ihrem allerersten Schuljahr und hat Schulden von einer halben Million Euro. Die müssen abbezahlt werden. Durch gestaffelte Geldbeträge mit einem Maximum von 200€ im Monat und Spenden klappt es — irgendwie. 

Ich werde von Tom geschminkt.

Hier gibt es ein Miteinander von Armen und Reichen. Ein Miteinander von Schwarzen und Weißen. Ein Miteinander von Jungen und Mädchen. Der Salon „Super Beauty“ ist ein gutes Beispiel dafür: Geleitet wird er von zwei Mädchen. Einer der beiden Angestellten ist ein Junge. Natürlich werde ich auch Kundin. Ich bekomme eine gratis Behandlung. Es fühlt sich gut an, wie Tom mir Lidschatten aufträgt und dabei keine blöden Blicke oder Beleidigungen von Außen erhält. Er hat eine ganz ruhige Hand. Fragt mich genau, welche Glitzerfarbe ich gerne haben möchte. Hält mir einen Spiegel vors Gesicht, damit ich sein Werk bestaunen kann.

Ich denke an Zeiten meiner eigenen Kindheit zurück: ich hatte eine eigene Arztpraxis, meine eigene Postzentrale, die Briefe in unsere große weite Wohnung geschickt hat, habe als Polizistin die Straßen meiner Nachbarschaft (un)sicher gemacht. Diese Erlebnisse gehören zu den Lieblingserinnerungen meiner Kindheit. Hier gibt es den Raum, solche Erinnerungen zu schaffen. 

Yale hat ihr eigenes Super-Beauty-Logo gemalt.

Als Psychologiestudentin weiß ich, wie wichtig und lehrreich Rollenspiele sind. Wie wichtig es ist seiner Kreativität, seinen Gedanken und Ideen freien Lauf lassen zu können. 

An dieser Schule brauchen die Kinder keinen Zettel und Stift zum Lernen. Das geht einfach so. Und so lernen sie ganz nebenbei, wie man sich sein eigenes Super-Beauty-Business aufbaut. Wie man gut dafür wirbt. Diskutieren, welche Preise ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis machen. Fragen sich, wie sie ihren Laden vergrößern und erweitern können. Malen ihr eigenes Logo und Design.

Morgen geht es für mich weiter zur nächsten Schule. Maditha & Co. wollen morgen ihr Salon-Geschäftsmodell expandieren. Dann gibt es auch Nagellack für die Kunden.

 

 

*Namen sind geändert

 

20. Juni 2018by Tabea Zorn
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Das kann doch keine Schule sein!?

Freie Schule – Freies Selbst?

8 Schulen, 1 Monat und 1 Frage

Kolumne, Teil I

Heckenbeck. Hier ist es! Ein bunt bemaltes Fachwerkhaus steht mitten in einem Dorf umgeben von gelb blühenden Rapsfeldern, sprießenden Ackern und einer Idylle, wie man sie nur aus Filmen kennt. Ein Auto parkt gerade ein und eine getigerte Katze läuft über den Hof. Es ist ruhig. Bis auf ein paar Vögel, ist nichts zu hören. Mein Blick schweift zu den farbigen Lettern neben dem Eingangstor: „Grund-, Haupt- und Realschule Heckenbeck“. In der Schule brennt Licht und ein Junge kommt aus der Eingangstür heraus. Aus dem Fenster tönt Klavierspielen. Ich muss mich kneifen — ist das überhaupt möglich? Es ist 22 Uhr. An einem Sonntagabend.

Schüler bei einem Lernangebot: „Newstreff“ in dem aktuelle Nachrichten besprochen werden.

Es ist mein erstes Mal an einer sogenannten freien Schule. Einer Schule, in der alles auf Freiwilligkeit basiert. Hier kommen die Schüler um 8 Uhr hin und gehen um 13 Uhr. Was dazwischen passiert, liegt alles in ihrer Hand. 

„Pausen? Die gibt es hier nicht. Hier ist immer Pause.“ sagt mir ein Mädchen als ich vergebens auf dem Stundenplan danach suche. Auch einen „Stundenplan“ gibt es hier nicht. Es gibt Angebote der Lehrer und die Schüler entscheiden selber, ob sie daran teilnehmen oder eben nicht. Während ich durch die Räume laufe, spielen Kinder mit Lego oder lesen, knobeln an Matherätseln oder sind auf dem Klettergerüst im Garten, basteln ihr Fantasietier oder machen selbstständig ein Biologie Experiment, lernen zu schreiben oder schmeißen sich Bälle beim Zombieball auf dem Schulhof zu. 

„Ein Jahr Interesse ist so viel wie 8 Jahre Desinteresse.“ erzählt mir Jan-Filip; ein junger, sportlicher Typ mit langen Haaren, den ich auf dem Schulhof treffe.  Er hat die Schule bis zur zehnten Klasse besucht. In der siebten Klasse hat er erst mit dem

Lernen angefangen. Lesen und Schreiben konnte er davor nur begrenzt. Inzwischen steckt er mitten in den Abiturprüfungen und hat gute Chancen auf einen Einserschnitt. „In meiner Altersstufe war ich der Erste, der mit intensiverem Lernen angefangen hat. Mir hat es sehr Spaß gemacht, mich in mehrere Themengebiete tiefer rein zu arbeiten.  Das haben die anderen gesehen und ebenso angefangen. Für mich war das genau richtig so.“

Schüler bei einem Aufwärmspiel im Bewegungsraum.

Das Lernen von Sozialkompetenzen, Selbsteinschätzung und einem gesunden Selbstbewusstsein stehen in der Schule auf der Tagesagenda. Schulversammlungen finden regelmäßig statt. Hier diskutieren Schüler und Lehrer über mögliche Entscheidungen, die Auswirkungen auf alle haben. Heute geht es um eine rote Linie, die versetzt werden soll. Sie markiert das Gebiet des Schulhofs. Da meldet sich ein kleiner Junge und sagt, dass man ja mal bedenken solle, dass es praktisch wäre, wenn ein Teil der Linie im Schatten läge. Die Erwachsenen nicken. Daran hatten sie nicht gedacht. Ich ertappe mich, wie mein Mund offen steht; die Meinung des achtjährigen Schülers und des achtunddreißigjährigen Lehrers zählen gleicher maßen. Alle sind per Du.

Die Redeleitung hat bei der Schulversammlung das Wort.

Jan-Filip sagt, er habe hier gelernt zu kommunizieren und seine Meinung zu sagen. Das merke ich. Er kann sich gut ausdrücken, hat auf jede meiner Fragen eine Antwort und seine Hände untermalen seine Worte. 

Man merkt, auf der Schule wird nicht aus Notwendigkeit, Angst oder Druck gelernt. Sondern aus Freiheit, Freude und Wertschätzung. Das bedeutet aber kein Abfallen der Noten. Im Gegenteil: es werden gute Ergebnisse erzielt, die mit anderen Schulen vergleichbar sind. Etwa die Hälfte der 89 Schüler machen ihr Abitur. 

Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, dann denke ich an die Lärmampel mit der meine Lehrerin uns beibringen wollte, ruhig zu sein. Bei uns ist sie fast immer rot gewesen. Hier wäre sie grün. Es verwundert mich, wie ruhig es bei der Schulversammlung ist. Alle hören zu, argumentieren und melden sich bei den Abstimmungen. Ist ja irgendwie auch logisch, denke ich. Hier nehmen nur Schüler teil, die wirklich dazu Lust haben.

von rechts nach links auf dem Schulhof: Samuel, Jan-Filip und Florian von der “Schools of Trust”-Bewegung mit der ich in Heckenbeck unterwegs gewesen bin (alle Fotos: Tabea Zorn)

Was ich in den 3 Tagen hier feststelle ist, dass diese Schule viel mehr als eine Schule ist. Sie ist ein Zentrum der Geborgenheit und Gemeinschaft. Die Räume sind bunt dekoriert und durch die Holzmöbel und Teppiche entsteht in jedem Raum eine warme Atmosphäre. Nach dem Mittagessen Zuhause kommen viele Schüler wieder und spielen Basketball auf dem Schulhof. „Sogar 2 Jahre nach meinem Abschluss komme ichregelmäßig hierher und spiele mit den Kindern.“ sagt Jan-Filip. Heckenbeck und die freie Schule werden immer ein Zuhause für ihn sein.

Jan-Filip erzählt lächelnd, dass er jetzt erst mal nach dem Abi reisen wird. Quer durch die USA mit dem Fahrrad. Dann würde er gerne etwas mit dem menschlichen Körper machen. Das fasziniert ihn.

Ich frage mich, wie mein bisheriger Lebensweg verlaufen wäre, wenn ich diese Schule besucht hätte. Wäre ich anders? Würden sich meine Zukunftsperspektiven unterscheiden? Was wäre mir im Leben wichtig?

Vielleicht würde ich Sonntagabends in der Schule Klavier spielen.

 

 

 

22. Mai 2018by Tabea Zorn
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