DIGGA auf dem Achtung Berlin-Filmfestival | Kritik zu “Reise nach Jerusalem”

Alice ist 39, single und lebt in Kreuzberg. Wenn sie auf Partys nach ihrem Beruf gefragt wird, sagt sie:

„Ich bin Freelancerin – ich habe eine Weiterbildung zur Online-Redakteurin gemacht und betreue verschiedene Kunden.“

Das klingt zunächst nach einer gelungenen Umsetzung der „Irgendwas mit Medien“-Devise vieler Geisteswissenschaftsabsolventen, sieht jedoch in der Realität ziemlich anders aus. Denn der Traum des freiberuflichen Arbeitens bedeutet für Alice zurzeit buchstäblich, frei vom Beruf zu sein: Sie bekommt einfach keine Aufträge mehr.

Was als Germanistik- und Publizistikstudium angefangen hat, endet nun im Jobcenter. Und anschließend im Marktforschungsinstitut, wo Alice frei zu Küchenpapier und Rotwein assoziiert, um ein Honorar in Form von Benzingutscheinen zu erhalten. Doch damit lassen sich weder Miete noch Versicherung bezahlen – und ihr Auto hat sie längst verkauft.

Es ist die Leistungsgesellschaft, die die Hauptfigur von “Reise nach Jerusalem” zwingt, Reise nach Jerusalem zu spielen: ein Spiel, bei dem es neben Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen vor allem eines braucht: Glück – und zwar im richtigen Moment. Genau das fehlt ihr allerdings auf ihrer Reise, darum kommt sie nicht an in der Gesellschaft. Stattdessen in China. Behauptet sie, als sie betrunken ein erfundenes Praktikum in China in ihren Lebenslauf einträgt, um sich einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen.

Denn wenn jeder Kandidat langjährige Berufserfahrung, Stressresistenz, Zuverlässigkeit und Kreativität vorweisen kann, muss man irgendwie anders aus der Masse herausstechen, um beruflichen Erfolg zu gewährleisten. Der wiederum ist maßgeblich für das eigene Selbstwertgefühl, unerlässlich für Smalltalk und Voraussetzung für ein glückliches Sozialleben in Berlin.

Das führt das Drama der italienischen Regisseurin Lucia Chiarla uns Medienmenschen vor Augen – und zwar abwechselnd auf grotesk-komische und deprimierende Weise: Wenn die Protagonistin gegen Ende des Filmes in Unterwäsche und Socken vor dem Callboy steht und ihn fragt, ob sie für seine Dienste auch mit Benzingutscheinen bezahlen könne, weiß man als Zuschauer gar nicht mehr, ob jetzt die Komik oder Tragik überwiegt.

Im Zweifelsfall aber lacht man – in erster Linie ob der Absurdität der dargestellten Situationen; sei es das genial beobachtete und mit der Kamera perfekt eingefangene oberflächlich-herzhafte Lachen der spießigen Freunde oder der übertriebene Enthusiasmus des Bewerbungscoaches, welcher die Kursteilnehmer vorführt wie Schulkinder, wenn sie die Banalitäten, die er lehrt, nicht mindestens so ernst nehmen wie er selbst, der er mit größter Überzeugung vor einer handvoll resignierter Hartz 4-Empfänger proklamiert:

“In Ihnen allen schlummert etwas!”

Und das ist nicht die einzige Floskel, die Lucia Chiarla gekonnt einsetzt, um die Verlogenheit im sozialen Umgang zu persiflieren, die oft erst im Kontrast zur deprimierenden Realität zum Vorschein kommt. Das Lachen, das daraus folgt, ist oft ein bitteres. Genauso bitter ist es, dass Alice, großartig gespielt von Eva Löbau, am Ende des Filmes spontan bei einer Runde Reise nach Jerusalem in einer Brandenburger Kneipe mitspielt – und gewinnt. Ob sie ihren Pfefferminztee trotzdem bezahlen muss, wird nicht aufgelöst.

“Reise nach Jerusalem” läuft heute noch am 18. April um 20 Uhr im Kino Neue Kammerspiele im Rahmen des Achtung Berlin-Filmfestivals. Noch gibt es Karten!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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