“Ich kann nicht reden” – über mein Buch und das Problem der Protagonistin

Ich wollte einen neuen Roman schreiben. Motiviert, aber unverhältnismäßig ideenlos saß ich damals, im März 2015, vor dem würfelförmigen Schrottcomputer meiner Mutter und suchte verzweifelt im Internet nach einer Idee. Das macht ein guter Autor zwar prinzipiell nicht, aber letztlich hat mich dieser Vorgang sehr viel weitergebracht, als ich es je für möglich gehalten hätte:

In einem Internetforum las ich den Themenvorschlag „Begegnung mit einem Menschen mit einer außergewöhnlichen Behinderung“ und fiel mir meine Freundin ein, die eine Form von Autismus hat. Schon immer fand ich es unheimlich spannend, wenn sie mir  von ihren Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen erzählte, da ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass eine Konversation, etwas, was für uns im Alltag so normal und dennoch von elementarer Bedeutung ist, einem Menschen so schwer fallen kann – auch wenn diese Tatsache nach außen hin nicht zwingend ersichtlich sein muss.

Und dann hatte ich die Idee: Ich erfand eine Behinderung, ich dachte mir eine Protagonistin aus, die nicht reden kann. Das bedeutet nicht, dass sie stumm ist, sondern lediglich „nicht reden“ kann.

Dabei ist mir der Unterschied zwischen dem Verb „reden“ und dem Verb „sprechen“ extrem wichtig. „Sprechen ist eben sprechen und reden ist sprechen mit Sinn“, schreibt Anna, die Protagonistin, aus deren Perspektive erzählt wird, nämlich relativ gegen Anfang – und genau dort liegt nämlich ihr Problem, das aber niemand versteht, weil es bislang unbekannt und unerforscht war: Anna ist anatomisch dazu imstande, klare und korrekte Sätze zu formulieren, allerdings „ist ihr Gehirn wie ausgeschaltet“, sobald sie beginnt, mit anderen Menschen zu kommunizieren. So kommen aus ihrem Mund nur Sätze, die keinen Sinn ergeben. Dadurch ist sie in ihrem Alltag stark eingeschränkt und letztlich „behindert“ – und diesen Begriff verwende ich bewusst, obwohl er heutzutage als politisch nicht korrekt gilt. Doch schließlich stimmt der Begriff „Behinderung“, wenn man nach der ursprünglichen Bedeutung geht, die da wäre, dass ein Mensch durch bestimmte Barrieren oder Einschränkungen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme an der Gesellschaft behindert wird.

Zuerst war ich begeistert von meinem kreativen Einfall, eine Sprachstörung zu erfinden, doch wollte ich natürlich wissen, wie so etwas überhaupt zustande kommen könne, denn ich wollte ja realistisch schreiben. Also fing ich an mit der Recherche und kam zu dem Ergebnis, dass die Behinderung, die Anna hat, eine Mischung aus Tourette und Mutismus ist.

Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine nervliche Erkrankung, bei der die Betroffenen zwanghafte „Tics“ wie bestimmte Zuckungen aufweisen und teilweise unkontrolliert bestimmte Wörter oder Ausrufe ausstoßen. Die genauen Symptome variieren allerdings von Person zu Person.

Mutismus hingegen ist eine komplexe Verhaltens- und Kommunikationsstörung, die sich darin äußert, dass die Betroffen nicht oder nur in bestimmten Situationen sprechen, obwohl sie im Prinzip körperlich dazu in der Lage sind. Auch hier gibt es verschiedenen Ausprägungen und man unterscheidet zwischen dem selektiven Mutismus und dem totalen Mutismus. Dieser kann von einem Trauma herrühren, aber auch anderen Ursprungs sein. In Bezug auf Autismus habe ich irgendwann einmal den Satz gehört: „Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“ – und von Mal zu Mal, dass ich ihn zitiere, wird er wahrer.

Aus Tatsache, dass die Ausprägungen und Ursachen solcher Störungen sehr unterschiedlich sein können, resultiert die Schwierigkeit, Betroffene zu diagnostizieren. Dazu kommt noch, dass gerade Störungen wie Mutismus von den Mitmenschen oft gar nicht als solche wahrgenommen werden, da es für „uns“ unvorstellbar ist, wie es sein kann, dass eine Person einfach „nicht reden kann“. Menschen, die unter selektivem Mutismus leiden und nur in bestimmten Situationen reden können, werden beispielsweise als schüchtern abgestempelt.

Genau so geht es teilweise der Protagonistin Anna aus „Ich kann nicht reden“. Im Laufe meines Romans stellt sich übrigens der Grund für ihre Sprachstörung heraus: Seit dem Tod ihrer Mutter, von dem Anna auch erst später erfährt, leidet der Vater unter einer Art von selektivem Mutismus: Im Alltag spricht er kaum und wenn, dann in Phasen und auch nur unter bestimmten Bedingungen. Aus diesem Grund war Anna natürlich immer schon bewusst, dass ihr Vater unter irgendeiner Kommunikationsstörung leidet, aber erst jetzt wird klar, weshalb auch sie nicht reden kann – sie hat es nie richtig gelernt.

Nachdem ich mich im Rahmen dieses Projektes höchst intensiv mit diesem spannenden Thema auseinandergesetzt habe, ist mein Verständnis für Behinderungen dieser Art um einiges gestiegen. Es ist zwar nicht erstaunlich, doch dennoch auch nicht lobenswert, dass man auf dem Gebiet der Verhaltensforschung in Bezug auf Störungen wie Mutismus noch nicht sehr weit fortgeschritten ist, aber gerade das will ich mit meinem Buch ändern. Ich möchte die Forschung anregen und mindestens in gleichem Maße zur Toleranz gegenüber solchen Behinderungen aufrufen.

Ihr seid an „Ich kann nicht reden“ interessiert? Dann könnt ihr es hier erwerben: 

Einen Link zum Autorenfilm findet ihr hier:

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