Wenn ich an den Karneval der Kulturen denke, dann kommen mir sofort brasilianische Sambatänzerinnen mit grellbunten Paillettenkostümen in den Sinn, die zu fast schon unrealistisch rhythmischen Klängen ihre wohlproportionierten Hüften hin und her schwingen lassen. Dazu dann diese im Alltag wahrscheinlich eher unpraktischen, gefühlte zwei Meter hohen Kopfbedenkungen, die die ohnehin schon nicht gerade Nowitzkigroßen Damen wie wandelende Weihnachtsbäume mit Tonnen an Lametta drauf aussehen lassen. Während man den Umzug gebannt bestaunt und zwischenzeitlich Nahtoderfahrungen macht, weil man von verrücktgewordenen Kreuzbergern und anderen fernen Kulturen auf ein Minimum seiner selbst zusammengepresst wird, bekommt man eine saftige Mischung aus Süßigkeiten und Konfetti gefüttert. Alles in Allem also ein ausgewogen hektisches Großevent nach Jedermanns Geschmack.
Und dann war ich das erste Mal da, auf dem für faule Menschen abgekürzte „KdK“.
Schon in den Gängen der U-Bahnstation ist der Bass zu hören wie von einer ganzen Armee an Bassisten, oben angekommen steht ein einzelner Mann beatboxend am Mikrofon, der rund zweihundert Menschen um ihn herum zum Takt nicken lässt. An jeder Ecke stehen Einkaufswagen, gefüllt mit Bierflaschen in Kühlboxen, ringsherum Unmengen an Bierdeckel. Eine wahre Freude für die Stadtreinigung.
Immer mehr Menschen gesellen sich zu einander und auf einmal wird es schon schwer, sich zu bewegen. Doch das ist nur der Mehringdamm. Weiter rein in den kleinen Straßen tobt das Leben. Es gibt unzählige Stände, alle riechen anders nach Essen. Wir bewegen uns zwar alle mit der Geschwindigkeit einer Schnecke, aber so lernt man nun mal Leute kennen. Manche können ihre Meinung nicht mehr zurückhalten. Dank des Alkohols weiß nun jeder, dass Mann gern die Saufkultur à la Mallorca kultiviert.
Teilweise muss man sich anstrengen, eine deutsche Stimme zu hören. Dafür vernimmt man Geräusche, die wohl Wörter sind, bei denen ich immer gedacht hatte, dass nur wildgewordene Eichhörnchen oder herunter kullernde Murmeln sich so anhören würden.
Allgemein ist es schwer, die Kulturen auseinanderzuhalten, geschweige denn erst mal zu erkennen. Man hat das Gefühl, alle haben sich lieb. An sich ist das eine wunderschöne und zu unterstützende Einstellung, wäre da nicht das hochprozentige Nass, weshalb geschätzte zweidrittel der Menschen anscheinend überhaupt da sind. Wir laufen auf einem Meer aus leeren Bierflaschen und werden jede Sekunde von einem Halbanwesenden angerempelt, gern auch angemacht. Viele flirten, während sie ihre Freundin im Arm halten, die allerdings auch betrunken ist, also daher ist es eigentlich egal.
In manchen Straßen ist es gar nicht mehr nötig, selbst zu rauchen. Jeder Zweite nuckelt an seiner Shisha, die Abgase tun ihr übriges. Die Hand vor Augen kaum noch sehend ist es langsam ein Durschlagen geworden, anstatt eines gemütlichen Schlenderns.
Weiter rein in den kleinen Seitengassen Kreuzbergs werden die Attraktionen immer weniger. Kaum noch sieht man hier eine Kultur aus fernen Ländern. Hier wird von privaten Anliegern Bratwurst vom hauseigenen Grill verkauft, damit die nächste Flasche Bier finanziert ist. Auch die Musik wird eintöniger, bassiger. Vorrangig Bass. Menschen liegen in den Büschen, klettern tarzarnartig die Bäume hoch, um einen besseren Blick zu erhaschen, um sich dann wie kleine Schimpansenkinder über ihren Erfolg zu freuen, manche freunden sich mit dem Bordstein an.
Und zwischen all dem Gestank, dem Gedränge und den betrunkenen Casanovas sieht man das, was wir alle kultivieren (sollten), Liebe. Neue Freunde feiern zusammen in allen Gehaltsklassen. Kleinkinder tanzen mit ihren Großeltern wild im Kreis. Unzählige Pärchen aller Geschlechter küssen sich und Fremde umarmen sich.
Das ist es, was den Karneval der Kulturen ausmacht. Alle verstehen sich und haben Spaß. Und für einen kurzen Augenblick verblasst all der Hass und die Gewalt in der Welt. Ich habe plötzlich das Gefühl von Furchtlosigkeit und Unantastbarkeit aller mich Erdrückenden um mich herum. Aus irgendeinem Grund wippe ich mit einmal zum Takt und ein kleines Lächeln macht sich breit auf meinem Gesicht. Alle um mich herum sind angetrunken und sehr offenherzig, aber doch wippen sie, tanzen sie, springen sie zu einer Musik, die sie sonst vielleicht nie hören würden. Eigentlich ist es doch gar nicht so schlimm, denke ich mir. Anders als gedacht, anders, aber nicht schlimmer. Anders eben. Kulturell besonders.